Ihr Rechtsanwalt im Wettbewerbsrecht
Dr. Hermann-Josef Omsels*

Eine Darstellung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb und wettbewerbsrechtlicher Nebengesetze



 


 

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Verhältnismäßigkeitsprüfung

1. Irreführende Werbung und Grundrechte des Werbenden

2. Irreführende Werbung und Waren- und Dienstleistungsverkehrsfreiheit

Neben der Interessenabwägung kann das Verbot einer Angabe als irreführende Werbung im Einzelfall unverhältnismäßig sein. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung setzt erst ein, wenn - auch unter Berücksichtigung der beteiligten Interessen - festgestellt wurde, dass grundsätzlich ein Fall einer irreführenden Werbung vorliegt.

BGH, Urt. v. 20.10.2021, I ZR 17/21, Tz. 42 - Identitätsdiebstahl II

Das Irreführungsverbot steht unter dem Vorbehalt des unter anderem in Erwägungsgrund 6 Satz 2 der Richtlinie 2005/29/EG angeführten Verhältnismäßigkeitsprinzips.

BGH, Urt. v. 24.1.2013, I ZR 60/11, Tz. 44 – Peek & Cloppenburg III

In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Senats ist anerkannt, dass ein Verbot dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen muss (vgl. EuGH, Urt. v. 12.7.2012, C-176/11, GRUR Int. 2012, 1032 Tz.. 22 = WRP 2012, 1071 - HIT; Urt. v. 6.9.2012, C-544/10, GRUR 2012, 1161 Tz.. 56 = WRP 2012, 1368 - Deutsches Weintor/Rheinland-Pfalz; BGH, Urt. v. 7.11.2002, I ZR 276/99, GRUR 2003, 628, 630 = WRP 2003, 747 - Klosterbrauerei). Danach müssen nur gering ins Gewicht fallende Fehlvorstellungen des Verkehrs im Hinblick auf die langjährige redliche Koexistenz der Unternehmenskennzeichen der Parteien und die aufklärenden Zusätze in der beanstandeten Werbung der Beklagten hingenommen werden (vgl. auch EuGH, Urt. v. 22.9.2011, C-482/09, GRUR 2012, 519 Tz. 79 bis 84 = WRP 2012, 1559 - Budvar/Anheuser Busch).

OLG München, Urt. v. 16.3.2017, 29 U 3285/16, II.3.a - Unterbliebene Rabattberücksichtigung

Eine Irreführungsgefahr ist in besonderen Ausnahmefällen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit hinzunehmen, wenn die Belange der Allgemeinheit und der Mitbewerber nicht in erheblichem Maße ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen werden, weil die bewirkte Fehlvorstellung zwar von Bedeutung, gleichwohl aber für die Verbraucherentscheidung letztlich nur von geringem Gewicht ist und schutzwürdige Interessen des auf Unterlassung Inanspruchgenommenen entgegenstehen (BGH Beschl. v. 16.8.2012, I ZR 200/11 – Über 400 Jahre Brautradition). Der Rückgriff auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz darf allerdings nicht dazu führen, dass Interessen, die nach der gesetzgeberischen Wertung bereits die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe beeinflussen, unter dem „Aufhänger“ der Verhältnismäßigkeit erneut und damit doppelt in die Waagschale geworfen werden. Vielmehr müssen Besonderheiten des Einzelfalls vorliegen, die bei der Auslegung der Richtlinie wegen ihrer konkreten Fallbezogenheit nicht berücksichtigt werden konnten (Dreyer in Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig, UWG, 4. Aufl. § 5 B Rn. 246). Der Umstand, dass es sich vorliegend um Einzelfallfehler gehandelt hat, wurde bereits bei der Prüfung der Frage, ob es sich um eine „Geschäftspraxis“ im Sinne der UGP-Richtlinie handelt, berücksichtigt und führt nach der insoweit eindeutigen Rechtsprechung des EuGH nicht dazu, keine Geschäftspraxis anzunehmen. Besonderheiten des Einzelfalls, die bei der Auslegung der Richtlinie wegen ihrer konkreten Fallbezogenheit nicht berücksichtigt werden konnten, liegen im hier zu entscheidenden Fall nicht vor. Das beantragte Verbot war somit auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu verhängen.

Verhältnismäßigkeit bei unverschuldeter Irreführung

OLG Hamburg, Urt. v. 28.1.2021, 15 U 128/19, Tz. 70

Zwar mag sich im Falle eines unverschuldeten Irrtums des Gewerbetreibenden über das Bestehen eines Vertrags die Frage stellen, ob die Durchsetzung eines wegen Verletzung des Irreführungsverbots bestehenden Unterlassungsanspruchs noch eine verhältnismäßige Sanktion im Sinne von Art. 13 Satz 2 UGP-Richtlinie ist (dies verneinend Franz, CR 2019, 753, 757 f.; kritisch auch Göbel, ZfM 2019, 217 f.; vgl. dazu allgemein Bornkamm/Feddersen in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 39. Auflage 2021, § 5 Rn. 1.95 und 1.200 m.w.N., wonach das Irreführungsverbot stets und stärker als andere Verbotstatbestände unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit stehe). Für eine Unverhältnismäßigkeit könnte neben dem unverschuldeten Irrtum des Gewerbetreibenden sprechen, dass der Irrtum auf dem mutmaßlich rechtswidrigen und den Auftraggeber der Beklagten potentiell schädigenden Handeln eines unbekannten Dritten beruht und der Verbraucher im Gegensatz zum Gewerbetreibenden weiß oder jedenfalls wissen bzw. ermitteln kann, dass er den Vertrag nicht geschlossen hat. Eine Unverhältnismäßigkeit könnte sich möglicherweise daraus ergeben, dass Unternehmer wie die Auftraggeberin der Beklagten, die formlos mögliche Vertragsschlüsse anbieten, einen wirtschaftlich unverhältnismäßigen Aufwand treiben müssten, um Identitätsdiebstähle wirksam ausschließen zu können. Von letzterem kann der Senat jedoch nicht ausgehen, weil die Beklagte dazu nicht vorgetragen hat.

OLG Düsseldorf, Urt. v. 9.3.2023, 20 U 50/22, Tz. 31

Das Irreführungsgebot steht unter dem Vorbehalt des unter anderem in Erwägungsgrund 6 S. 2 RL 2005/29/EG angeführten Verhältnismäßigkeitsprinzips (vgl. BGH GRUR 2003, 628 – Klosterbrauerei; BGH GRUR 2015, 1252 – Medizinische Fußpflege). Indes ergibt sich eine Unverhältnismäßigkeit der Titulierung des klägerischen Unterlassungsanspruchs entgegen der Ansicht der Beklagten insbesondere nicht daraus, dass die in der Zahlungsaufforderung enthaltene Falschangabe für sie möglicherweise nicht zu vermeiden war (BGH GRUR 2022, 170 – Identitätsdiebstahl II). Denn nach Auffassung des Bundesgerichtshofs ändert ein fehlendes Verschulden des Gewerbetreibenden in einer Konstellation wie der vorliegenden nichts daran, dass ihm die Herbeiführung der beim Verbraucher eingetretenen Irreführung als unlauteres Verhalten anzulasten ist (BGH aaO, Rn. 20-22, 42 f.). Der Umstand, dass es sich im Streitfall nicht um eine „Hauptforderung“ des Mandanten der Beklagten, sondern um eine „Nebenforderung“ handelt, ist insoweit ohne Relevanz, ....

Irreführende Werbung und Grundrechte des Werbenden

Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung hat stets stattzufinden, wenn das Verbot mit einem Eingriff in eine grundrechtlich geschützte Rechtsposition einhergeht. Zum Verhältnis von UWG und Grundrechte siehe hier.

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Irreführende Werbung und Waren- und Dienstleistungsverkehrsfreiheit

Beim Handel mit Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen über die Binnenmarktgrenzen der Europäischen Union hinweg sind stets die Grundfreiheiten des AEUV ( Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) zu beachten. Die Bedeutung der Grundfreiheiten hat für die Auslegung von wettbewerbsrechtlichen Tatbeständen aber erheblich abgenommen, seitdem die Europäische Union, insbesondere durch die Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken selber eine sekundär-rechtliche Grundlage geschaffen hat, die den Vorgaben des europäischen Primärrecht entspricht und im Geschäftsverkehr mit dem Verbraucher eine für die Mitgliedstaaten verbindliche Vorgabe macht.

Für eine ergänzende Verhältnismäßigkeitsprüfung an den Grundfreiheiten bleibt insoweit nur noch Raum, wo bestimmte Verhaltensweisen noch nicht vom Sekundärrecht der Europäischen Union erfasst werden oder das Sekundärrecht den Mitgliedstaaten einen Handlungsspielraum lässt.

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Zitiervorschlag zur aktuellen Seite

Omsels, Online-Kommentar zum UWG:

http://www.webcitation.org/6F6atg25L