Europäische Richtlinien im Bereich des Wettbewerbsrechts
Weite Bereiche des deutschen Wettbewerbsrechts beruhen auf Vorgaben des europäischen Rechts. Bei den Rechtsvorschriften des europäischen Rechts wird zwischen Richtlinien und Verordnungen unterschieden. Europäische Verordnungen gelten unmittelbar für alle natürlichen und juristischen Personen im Bereich der Europäischen Union. Richtlinien gelten nicht unmittelbar. Sie müssen von den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in deren nationales Recht umgesetzt werden.
Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftpraktiken (UPG-Richtlinie)
Die wichtigste Richtlinie im Recht des unlauteren Wettbewerbs ist die Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken. Ihre Vorgaben wurden durch das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 22.12.2008 (UWG 2008) in das deutsche Recht übertragen. Sie enthält eine abschließende Regelung. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dürfen im Anwendungsbereich dieser Richtlinie keine strengeren oder lascheren Regelungen vorsehen, als sie von der Richtlinie vorgegeben werden.
Richtlinie 2006/114/EG über irreführende und vergleichende Werbung
Eine weitere bedeutsame Richtlinie ist die Richtlinie 2006/114/EG über irreführende und vergleichende Werbung. Sie enthält zur vergleichenden Werbung ebenfalls eine abschließende Regelung. Die Vorgaben zur irreführenden Werbung umschreiben in der Richtlinie demgegenüber nur einen Minimalstandard. In diesem Bereich sind strengere nationale Bestimmungen zulässig. Der Anwendungsbereich der Richtlinie ist in diesem Bereich aber auf den geschäftlichen Verkehr zwischen Unternehmern beschränkt ist. Für den geschäftlichen Verkehr gegenüber Verbrauchern enthält die Richtlinie 2005/29/EG für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union verbindliche und abschließend geregelte Irreführungsverbote.
Sonstige Richtlinien mit wettbewerbsrechtlicher Relevanz
Neben den vorstehend erwähnten Richtlinien erhält das Recht der Europäischen Union noch weitere Verordnungen und Richtlinien, die in Teilbereichen für das deutsche Recht des unlauteren Wettbewerbs ebenfalls von Bedeutung sind. Dazu gehören u.a. die
- Richtlinie 2000/31/EG über den elektronischen Geschäftsverkehr (E-Commerce-Richtlinie)
- Richtlinie 2010/13/EU über audiovisuelle Mediendienste
- Richtlinie 2002/58/EG über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation, geändert durch die Richtlinie 2009/136/EG (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation)
- Richtlinie 2009/22/EG über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen
- VO (EG) 2006/2004 über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz
- Richtlinie 98/6/EG über den Schutz der Verbraucher bei der Angabe der Preise der ihnen angebotenen Erzeugnisse
- Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel (Lebensmittelinformationsverordnung)
- Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel
- Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt
- Richtlinie 2009/22/EG über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen
Auf diese Richtlinien und Verordnungen wird im Rahmen dieses Online-Kommentars jeweils an den Stellen eingegangen, wo diese Verordnungen oder Richtlinien einschlägig sind.
Verhältnis der Europäischen Verordnungen und Richtlinien zueinander
Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken
Kollidieren die Bestimmungen der Richtlinie mit anderen Rechtsvorschriften der Gemeinschaft, die besondere Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, so gehen die Letzteren vor und sind für diese besonderen Aspekte maßgebend.
Erwägungsgrund 10
Es muss sichergestellt werden, dass diese Richtlinie insbesondere in Fällen, in denen Einzelvorschriften über unlautere Geschäftspraktiken in speziellen Sektoren anwendbar sind auf das geltende Gemeinschaftsrecht abgestimmt ist. Diese Richtlinie ändert daher die Richtlinie 84/450/EWG, die Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz4 , die Richtlinie 98/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 1998 über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen5 und die Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher6 . Diese Richtlinie gilt dementsprechend nur insoweit, als keine spezifischen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts vorliegen, die spezielle Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, wie etwa Informationsanforderungen oder Regeln darüber, wie dem Verbraucher Informationen zu vermitteln sind. Sie bietet den Verbrauchern in den Fällen Schutz, in denen es keine spezifischen sektoralen Vorschriften auf Gemeinschaftsebene gibt, und untersagt es Gewerbetreibenden, eine Fehlvorstellung von der Art ihrer Produkte zu wecken. Dies ist besonders wichtig bei komplexen Produkten mit einem hohen Risikograd für die Verbraucher, wie etwa bestimmten Finanzdienstleistungen. Diese Richtlinie ergänzt somit den gemeinschaftlichen Besitzstand in Bezug auf Geschäftspraktiken, die den wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher schaden.
Das Verhältnis speziellere Regelungen zur Richtlinie gegen unlautere Geschäftspraktiken muss in jedem Einzelfall konkretisiert werden. Insbesondere muss bestimmt werden, ob die speziellere Regelung einen Sachverhalt abschließend regeln will oder ob auf die Richtlinie gegen unlautere Geschäftspraktiken zurückgegriffen werden kann, wenn die speziellere Regelung nichts regelt.
Die spezielleren Regelungen können festlegen, was vom Unternehmer zu tun und/oder zu unterlassen ist. Sie können auch festlegen, wer für einen Verstoß gegen eine Verhaltensvorschrift verantwortlich ist. Wird die Verantwortung auf bestimmte Personen beschränkt, kann über die UGP-Richtlinie kein erweiterter Personenkreis für die Verletzung einer Verhaltensnorm verantwortlich gemacht werden.
EuGH, Urt. v. 16.6.2015, C-544/13, Tz. 80 f - Abcur/Apoteket Farmáci
Nach Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29 gehen, wenn die Bestimmungen dieser Richtlinie mit anderen Rechtsvorschriften der Union, die besondere Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, kollidieren, die Letzteren vor und sind für diese besonderen Aspekte maßgebend. Diese Richtlinie gilt folglich gemäß ihrem zehnten Erwägungsgrund nur insoweit, als keine spezifischen Vorschriften des Unionsrechts vorliegen, die spezielle Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, wie etwa Informationsanforderungen oder Regeln darüber, wie dem Verbraucher Informationen zu vermitteln sind.
Am Beispiel der Arzneimittelrichtlinie
EuGH, Urt. v. 16.6.2015, C-544/13, Tz. 79 ff - Abcur/Apoteket Farmáci
Die Richtlinie 2001/83, die spezielle Vorschriften für die Arzneimittelwerbung enthält, stellt eine Sonderregelung gegenüber der in der Richtlinie 2005/29 vorgesehenen allgemeinen Regelung dar, die die Verbraucher vor unlauteren Geschäftspraktiken der Unternehmen schützt (vgl. entsprechend Urteil Gintec, C‑374/05, EU:C:2007:654, Rn. 31).
Hieraus folgt, dass im Fall einer Kollision der Bestimmungen der Richtlinie 2005/29 mit denen der Richtlinie 2001/83, insbesondere den in deren Titel VIII enthaltenen Vorschriften für die Werbung, diese Bestimmungen der Richtlinie 2001/83 vorgehen und auf diese speziellen Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken anwendbar sind.
Am Beispiel der EU-Lebensmittelinformationsverordnung
BGH, Urt. v. 7.4.2022, I ZR 143/19, Tz. 30 ff – Knuspermüsli II
Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29/EG sieht vor, dass bei einer Kollision der Bestimmungen dieser Richtlinie mit anderen unionsrechtlichen Vorschriften, die besondere Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, die Letzteren vorgehen und für diese besonderen Aspekte maßgebend sind. Die Richtlinie 2005/29/EG gilt nach ihrem Erwägungsgrund 10 Satz 3 nur insoweit, als keine spezifischen Vorschriften des Unionsrechts vorliegen, die spezielle Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, wie etwa Informationsanforderungen oder Regeln darüber, wie dem Verbraucher Informationen zu vermitteln sind.
Ob eine Kollision im Sinne von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29/EG vorliegt, ist in Bezug auf konkrete Bestimmungen zu prüfen. Der Senat hat daher entschieden, dass die Frage, ob der Verbraucher mit der beanstandeten Aufmachung eines Lebensmittels hinreichend über dessen Merkmale aufgeklärt wird, allein nach den einschlägigen Bestimmungen der Lebensmittelinformationsverordnung zu beurteilen ist und aus Art. 7 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie 2005/29/EG (§ 5a Abs. 3 Nr. 1 UWG) keine darüber hinausgehenden Informationspflichten hergeleitet werden können. Anders liegt es jedoch, wenn die Richtlinie 2005/29/EG über ihren Art. 7 Abs. 5 die Vorschriften der Lebensmittelinformationsverordnung integriert. Dann liegt kein Kollisionsfall vor, sondern die Richtlinien ergänzen sich insoweit.
OLG Düsseldorf, Urt. v. 15.12.2015, I-20 U 24/15, Tz. 28
Soweit sich die Klägerin auf das in § 5 UWG normierte Irreführungsverbot stützt, ist zu beachten, dass die europarechtlichen Vorgaben nicht unterlaufen werden dürfen. Die Norm dient, soweit Handlungen gegenüber Verbrauchern in Rede stehen, der Umsetzung der Richtlinie 2005/29EG (Unlautere Geschäftspraktiken-RL). Nach Art. 3 Abs. 4 gehen abschließende Rechtsvorschriften der Gemeinschaft der Richtlinie und darauf beruhendem nationalem Recht vor (vgl. EuGH, EuZW 2015, 707 Rnrn. 79 ff - Abcur/Apoteket Farmáci). Zu diesen Vorschriften gehört die EU-Lebensmittelinformationsverordnung. Die Verantwortlichkeit des Beklagten als Zwischenhändler wird nur für den Fall des Art. 8 Abs. 3 Lebensmittelinformationsverordnung begründet.
Weiteres zu Art. 3 Abs. 4 der UGP-Richtlinie gibt es hier.
Vorlage nationaler Gerichte
Wenn europäisches Recht für die Entscheidung eines Rechtsstreits von Bedeutung sein kann und die Auslegung des europäischen Rechts zweifelhaft sein kann, muss das letztinstanzliche Gericht Rechtsfrage dem Europäischen Gerichtshof zur Auslegung vorlegen. Instanzgerichte sind dazu nur ausnahmsweise verpflichtet.
OLG Frankfurt, Urt. v. 9.6.2016, 6 U 73/15, II.8 - Uber POP
Instanzgerichte müssen das Verfahren aussetzen und dem Gerichtshof gem. Art. 267 AEUV (ex-Artikel 234 EGV) ein Ersuchen um Vorabentscheidung über die Gültigkeit vorlegen, wenn sie der Auffassung sind, dass Gründe, die gegen die Gültigkeit eines Gemeinschaftsrechtsakts sprechen, durchgreifen und damit die Existenz des Gemeinschaftsrechtsakts in Frage stellen (EuGH, Urteil von 10. Januar 2006, C-344/04, Rn 29, 30).
OLG Frankfurt, Urt. v. 9.6.2016, 6 U 73/15, II.8 - Uber POP
Eine Ermessensreduktion auf Null im Sinne einer Vorlagepflicht wird außerdem angenommen, wenn ein anderes Gericht dieselbe Rechtsfrage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt hat und wenn das Kooperationsverhältnis der nationalen Gerichte mit dem EuGH, der effet utile (Individualrechtsschutz des Vorabentscheidungsverfahrens) sowie die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit dafür sprechen, von einer Reduktion des Ermessens des Instanzgerichts auf Null im Sinn einer Pflicht zur Vorlage auszugehen, um den Parteien des Ausgangsrechtsstreits dann an dem auch Individualrechtsschutz gewährleistenden Vorabentscheidungsverfahren beteiligen könnten (vgl. Foerster EuZW 2011,901, 906, Fn. 76 m.w.N.).
Auslegung europäischen Rechts
EU-Grundrechtscharta
BGH, Beschl. v. 1.6.2017, I ZR 188/16, Tz. 28
Bei der Auslegung des der Umsetzung von Richtlinien des Unionsrechts dienenden nationalen Rechts sind nach Art. 51 Abs. 1 Satz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) die dort niedergelegten Grundrechte zu beachten und daher, soweit die Freiheit der Meinungsäußerung und Berichterstattung in Rede steht, vorrangig die insoweit einschlägigen Regelungen in Art. 11 Abs. 1 und 2 EU-Grundrechtecharta anzuwenden sind (vgl. EuGH, Urt. v. 20.5.2003, C-465/00, C-138/01 und C-139/01, Tz. 68 und 80).
BGH, Beschl. v. 1.6.2017, I ZR 188/16, Tz. 30
Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der EU-Grundrechtecharta muss jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta verankerten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Außerdem dürfen Einschränkungen nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der EU-Grundrechtecharta unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
BGH, Beschl. v. 1.6.2017, I ZR 188/16, Tz. 29
Die in Art. 11 der EU-Grundrechtecharta verankerte Freiheit der Meinungsäußerung und der Information gilt auch für die Verbreitung von Informationen geschäftlicher Art durch einen Unternehmer und damit für Werbebotschaften (EuGH, Urt. v. 17.12.2015, C-157/14, Tz. 64 - Nephne Distribution, mwN). Gemäß Art. 52 Abs. 3 der EU-Grundrechtecharta hat die in deren Art. 11 gewährleistete Meinungs- und Informationsfreiheit die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die durch Art. 10 EMRK garantierte Freiheit (EuGH, Urt. v. 4.5.2016, C-547/14, Tz. 147 - PMI & BAT/Secretary of State for Health).